Was bedeutet es zu genügen? Aus der Schule kennen wir genügend als Note 4, mangelhaft als 5 und ungenügend als 6. Das teilt die westliche Zivilisation recht gut ein. Seit unserer Kindheit wissen wir bereits, dass genug nicht genug ist, denn sonst gäbe es ja nicht die Noten 1, 2 und 3, die die anderen in ihrer Wertigkeit bei Weitem überflügeln. Genug ist bei uns eben nicht genug. Wir genügen uns nicht. Um diesen Mangel auszugleichen, ist ein richtiger Markt entstanden, beispielsweise der Mode- oder Kosmetikhandel. Die Selbstoptimierung, die Maximierung der eigenen Leistung ist ein so wesentlicher Aspekt des täglichen Lebens, dass es kaum ein Thema gibt, an dem sie nicht zutage tritt. Auch beim Camping kann, beispielsweise das Wetter zu nass , die Nachbarn zu laut, die Gegend zu langweilig, die Wassertemperatur zu kalt, das Essen im Restaurant zu schlecht sein. Das Urlaubserlebnis ist stets gefährdet, zu einem Misserfolg zu werden. Es ist halt nicht gut genug.

Dies ist bereits mein 4. Versuch mich mit dem Thema auseinander zu setzen. Ja, ich habe es bereits zur Genüge probiert und dennoch habe ich höhere Erwartungen an den Text, den Stil, die bestenfalls mäandernden Inhaltspassagen. Bestenfalls, noch so ein wertendes Wort. Werten und Bewerten ist so fest in unserer Kultur verankert, so gnadenlos tiefgreifend, dass keiner diesem Fluch entgeht. Warum Fluch? Weil die innere Bewertungsschablone mit der wir tagtäglich unser Erleben und Handeln einordnen, keinen Raum für andere Wahrnehmungsoptionen lässt. Etwas ist entweder gut oder schlecht, 5- oder 1-Stern, richtig oder falsch. Dieser Wertungsmaßstab mag anfänglich vielleicht das Urteilen schön leicht machen, jedoch fördert er auch Ungeduld, Ablehnung und Polarisierung. Beim politisch mittlerweile höchst aufgeladenen Thema Coronaimpfungen ist das nicht anders. Als wären wir Zeug*innen einer alten Tragödie von Shakespeare werden hier zwei verfeindete Fronten gegeneinander ausgespielt. Dabei geht es längst nicht mehr um das Betrachten von sachlichen Fakten, sondern darum die Gegenseite unter Druck zu setzen, zu überzeugen oder einfach abzuwerten und zu verstoßen. Warum? Warum fällt es uns so schwer diesen Kontrast, eine Gegenmeinung, einen anderen Standpunkt zuzulassen? Können wir nur noch mit einer mentalen Monokultur leben? Können wir nicht alle gleichermaßen willkommen heißen: Impfbefürworter, Impfgegner, Politiker, Pharmafirmen, Maskenträger, Maskenverweigerer… Auffällig, sprachlich gibt es bei einigen Worten schon eine klare Wertung Maskenverweigerer und Impfgegner. Also besser Ungeimpfte und Nichtmaskenträger. Diese unterschwellige Ablehnung, diese Diffamierung von anders Denkenden ist gefährlich. Sie ist hochmütig und ein Zeichen unserer auf Leistung getrimmten Welt. Wer es bei uns nicht schafft, nicht mitmacht, ist raus. Ist ein Loser, ein Dummkopf, entweder rechts oder links, auf alle Fälle ein Tunichtgut, schlimmstenfalls natürlich Anarchist. Die wohl größte Beleidigung für anders Denkende und je nach Zugehörigkeit auch die größte Auszeichnung. Längst wissen wir alle, bestimmte Anweisungen, Maßnahmen und Regeln sind alternativlos. Das mag stimmen. Beispielsweise ist Atmen für das Überleben eines Menschen alternativlos. Leider werden diese Schlagworte jedoch nicht für faktisch unumstößliche Wahrheiten gebraucht, sondern als Manipulationsmittel eingesetzt. Eben um zu unterstreichen, warum etwas so ist und nicht anders. Das kennen wir auch aus unserer Kindheit, meistens aus Situationen in denen Eltern und Lehrer keine Lust oder Zeit hatten, sich mit den störenden Kinderfragen auseinanderzusetzen. In Augenblicken in denen bereits entschieden war, ohne den anderen an der Entscheidung teilhaben zu lassen. Eine willkommene Strategie, um das eigene Handeln nicht in Frage stellen zu müssen.

Aber zurück zur Genügsamkeit. Seltsam bei diesem Wort schwingt so viel Minimalismus, Einfachheit, ja auch Verzicht mit. Die Genügsamen, sind das nicht immer jene glücksverstrahlten Menschen, die mit wenig zufrieden sind, also irgendwie die Anspruchslosen, die sich mit ihrer Situation, ihrem Leben abgefunden haben? So sollen und wollen wir es zumindest oft gern verstehen, auch um unsere unermüdliche Betriebsamkeit, unser Streben nach Verbesserung, nach mehr, mehr Selbstoptimierung, mehr Konsum, mehr Gesundheit, mehr tollen Erlebnissen, mehr Freunden, mehr perfekten Momenten, mehr Auszeichnungen, mehr Geld, etc. zu rechtfertigen. Die Sehnsucht nach mehr, nach Wachstum und Fortschritt ist das leitende Dogma unserer westlichen Welt. Wenn etwas noch schief läuft, dann weil uns die richtige, die bessere Technologie fehlt.

Irgendwie traurig diese kapitalistische Perspektive des sich immer schneller und immer länger drehenden Hamsterrads in der jede zu jeder Zeit noch irgendwas benötigt, um wirklich sie selbst oder glücklich sein zu dürfen. Warum brauchen wir Urlaub? Weil wir uns von der Arbeit erholen müssen. Warum reisen wir? Weil uns die Umgebung in der wir wohnen nicht genügt, wir mehr von der Welt sehen wollen. Warum brauchen wir immer neue Technik? Weil die Geräte wichtige Arbeiten erledigen, damit wir weiter funktionieren können. Warum müssen wir funktionieren? Ja, warum eigentlich? Weil wir nichts wert sind, wenn wir keine Arbeit haben, dann liegen wir ja dem Steuerzahler auf der Tasche, sind also wieder mangelhaft und ungenügend. Seit ich vor einem Jahr ein Buch über die Kogi (ein indigenes Volk aus Kolumbien) gelesen habe, geht mir ein Satz nicht mehr aus dem Kopf. Ein Mitglied des Stammes der Kogi fragte seinen europäischen Gast: Wann ist genug, genug? Für ihn als Mitglied eines einfachen mit den Zyklen der Natur lebenden Volkes muss unser Überfluss an Werkzeugen, Kleidung, Fahrzeugen, Technik, Nahrungsmitteln usw. überwältigend gewesen sein. Natürlich, der Überfluss ist überwältigend. Manchmal so sehr, dass es schwer fällt, vor lauter Auswahl überhaupt eine Entscheidung zu treffen. Ich möchte gar nicht darüber diskutieren wie viel von dem ganzen Zivilisationskrempel sogar völlig überflüssig ist. Die Frage kann sich jede selbst stellen. Seit sich diese Frage in meinem Kopf eingenistet hat, nehme ich auch die weit verbreitete Unzufriedenheit, das Wohlstandsgejammer mehr wahr. Wenn der abendländliche Mensch eins kann, dann sich über irgendetwas aufzuregen, was in seinen Augen falsch oder minderwertig und ungenügend ist. Wie kann das sein? Wir haben deutlich mehr Möglichkeiten und Luxus als die einfachen indigenen Völker und sind so dermaßen unglücklich. Das zeigt ja auch der Glücksindex, der kein westliches Land, sondern Bhutan an die Spitze hebt. Der Überfluss schafft Achtlosigkeit, schafft Belanglosigkeit, schafft auch Neid und vor allem Minderwertigkeit. Das natürlich Gegebene ist nie genug. Wir selbst sind uns nicht genug, sind zu fett, zu faul, haben zu pickelige Haut, zu wenig Geld, zu wenig Erfolg, zu wenig Freunde, zu wenig… Wehe man ist auch noch krank oder behindert, dann kann aus der- oder demjenigen ja nichts werden. Um zumindest irgendein vernünftiges Leistungsniveau zu erreichen, muss dann natürlich pharmazeutisch oder operativ bei diesem nachweislich kaputten Körpern nachgebessert werden. Aber viel zu erwarten, ist von den Behinderten ja nicht und vergleichbar mit den Leistungen gesunder Menschen ist deren Können ja eh nicht. Deshalb gibt es ja auch die Paralympics, die kleine, unscheinbare Nachveranstaltung der Olympischen Spiele, die eine viel geringere Medienpräsenz hervorbringt. Bei diesem Nachspiel geraten die Athlet*innen nur ins Schlaglicht der medialen Aufmerksamkeit, wenn sie sich auf dem Siegertreppchen einfinden. Dann lösen sie kurz ein ungläubiges oh und ah aus und sind Sinnbild dafür, dass es jede auch mit körperlichen Unzulänglichkeiten zu etwas bringen kann. Erst der Erfolg macht sichtbar, es genügt eben nicht dabei zu sein und es genügt schon gar nicht frau selbst zu sein. Diese Wertungsmechanismen sind auch die Ursache von Sexismus und Rassismus. Warum? Warum ist manches mehr wert als anderes? Warum genügt das Gegebene nicht? Die Dankbarkeit hat es in so einem System voller Leistungsdruck, Selbstoptimierung und Weltverbesserung schwer. Der Mangel entsteht im Kopf, beim Vergleichen, beim Bewerten, beim Aburteilen. Richtig deutlich wird das beim Geld. Je billiger etwas ist, desto weniger ist es wert. In so einem System können die Natur und unsere eigenen Körper, die uns ja ungefragt zur Verfügung stehen, nicht wertgeschätzt werden. Dabei ist alles, was wir wirklich brauchen, schon da. Doch da wir mit unseren Vergleichen, Zielen und Unzulänglichkeiten beschäftigt sind, fällt es schwer, diese griffbereite Fülle, dieses ganz gegenwärtige, bedingungslose Glück wahrzunehmen.

Was würde passieren, wenn plötzlich keiner mehr etwas Neues kaufen würde? Wenn nichts weiter produziert würde, wenn wir uns das was schon da ist, alle teilen würden? Hätten wir genug? Wenn wir statt auf die Unterschiede zu achten, alle gleichermaßen akzeptieren und willkommen heißen könnten? Gäbe es dann keine Minderwertigkeiten mehr und könnten wir die seelige Selbstgenügsamkeit genießen? Könnten alle ihre vollen Potentiale entfalten, sich wirklich einbringen, weil sie sich geliebt und angenommen fühlen würden?