Seit fast einem Jahr schreit uns die Natur an. Auch wenn böse Zungen behaupten, der Virus wäre menschgemacht und einem Labor entsprungen. Warum eigentlich, weil die Natur so etwas gemeines nicht hervorbringen könnte? Weil der Mensch kein Teil der Natur ist, er hat sich ja bekanntlich darüber erhoben? Für den folgenschweren Hörsturz der Normalität hat die Ausdifferenzierung der Ursache keine Bedeutung. Der Virus lebt unter uns, beharrlich mutet er uns seine Mutationen zu, wegen ihm werden ganze Gesellschaftsbereiche lahmgelegt. Durch seine ansteckende Natur haben es alle dienstleistenden Berufe besonders schwer. Die einen werden ausgezehrt, weil sie unter widrigen Bedingungen am Limit arbeiten. Der Applaus der Anfangseuphorie trägt sie längst nicht mehr. Sie sind müde, versuchen nur noch durchzuhalten, um für die noch Kränkeren und Geschwächteren da zu sein. Wer soll es auch sonst tun? Die andere Dienstleistungsfraktion kann, gezwungen durch ein auferlegtes Berufsverbot gar nichts tun, außer zu hoffen, dass sie diese anhaltende Starre wirtschaftlich und psychisch überleben wird. Lachen, feiern, gesellig sein ist nicht mehr erwünscht und angemessen. Das Gegenüber längst zum potentiellen Feind geworden, zum Krankheitsherd, zur Gefahrenquelle. Gerade werden wieder alle Lebensbereiche eingeschränkt oder ganz geschlossen, die ein wenig Lebendigkeit in den Alltag bringen.

Längst ist klar, dass unser Wohlergehen auf Gedeih und Verderb an Wirtschaftswachstum geknüpft ist. Es am Gängelband der Industrie hängt. Doch für welche Produkte nehmen wir so viele Einschränkungen und Opfer auf uns? Waffen, Autoteile und Ackergifte, unsere Exportschlager werden nicht angetastet. Die Fließbänder der großen Produktionshallen dürfen nicht stillstehen. Es ist nur zu unserem Besten.

Davon hängt unser Leben also ab? Das sind unsere Gaben an die Welt? Diese neue 1984-meets-Metropolis-Realität erhellt unbarmherzig die Alltagsmaschinerie, der wir uns als Gesellschaft verschrieben haben. Deshalb stehen auch Werkshallen mit hunderten Mitarbeitern offen, während Ferienhäuser für 4 Personen geschlossen bleiben. Deshalb ist Außensport für Kinder in Gruppen weiter verboten, obwohl der gefährliche Aerosolaustausch hauptsächlich in Innenräumen stattfindet. Deshalb gibt es auch keinen weiteren harten Lockdown, obwohl er von den Ärzten und Virologen schon seit einigen Monaten gefordert wird. Deutschland kann ihn sich nicht leisten, viel zu wichtig ist der Handel der Großindustrie mit China und den USA. Was bleibt uns also? Zu hoffen? Zu hoffen, dass der Spuk durch eine voranschreitende Impfkampagne bald vorbei ist und bis dahin das Beste draus zu machen.

Seit einem Jahr schreit uns der Virus an und so langsam wird aus dem Schock über den ohrenbetäubenden Lärm eine konkrete Fragestellung: Wollt ihr wirklich so leben? Soll euer Glück von einer Vielfalt der Dinge mehr abhängen als von einer Vielfalt der Lebensformen und Lebensarten? Es ist die urtümliche Frage nach Haben oder Sein.

Der Virus zeigt, dass wir nicht alles haben können. Worauf wollen wir also verzichten? Diese Frage lässt sich nicht rein rational beantworten. Beim Verzicht schwingt meist die Angst mit, die Angst zu kurz zu kommen, etwas zu verlieren, nicht genug zu haben. Dabei kann Reduktion auch befreiend und heilsam sein. Der Winter ist die Jahreszeit für Entsagung und Verringerung, hier sammelt die Natur ihre Kräfte, um dann im Frühjahr so stark und unbeirrt auferstehen zu können. Wie viel bedeuten uns Werte wie Geselligkeit, Bildung, Reisen, Kunst und Kultur, sportliches Spiel oder ein Restaurantbesuch? Augenblicklich sind fast alle erholungsrelevanten Aspekte des Lebens entweder gar nicht oder nur virtuell verfügbar. Genügt uns das? Wie wird unsere gesellschaftliche Auferstehung aussehen?